(11/2023) - „»Ich friere in der Sonne« erhält BKM-Produktionsförderung“
Wir freuen uns, dass unser Dokumentarfilmprojekt »Ich friere in der Sonne« von der Jury der BKM im November 2023 für eine Produktionsförderung vorgeschlagen worden ist.
Der Dokumentarfilm begleitet Jugendliche in Neubrandenburg, die in den Literaturwerkstätten von Mirijam Günter ihre Situation reflektieren und in Worte zu fassen versuchen. Die Schriftstellerin Mirijam Günter bietet seit mehr als zehn Jahren bundesweit Literaturwerkstätten an für Jugendliche, die sonst nicht so einfach mit Literatur in Berührung kommen würden. Sie unterstützt und ermutigt sie, ihre Gefühle in Worte, Texte, ja Gedichte, zu fassen. Wir werden die Jugendlichen in einer dokumentarischen Langzeitbeobachtung den nächsten Jahren bis zu ihrem Schulabschluss in der Regionalschule Ost »Am Lindetal« begleiten. Sie leben in den Trabantenstädten Neubrandenburg-Oststadt und Datzeberg. Der Dokumentarfilm wird produziert von Kristina Konrad (Weltfilm).
Filmprojekte aus und über Mecklenburg-Vorpommern erhalten finanzielle Hilfe vom Land. Rund 520.000 Euro hat eine Jury für Filmdrehs und Vorhaben vergeben.
.So soll ein Dokumentarfilm von Grimme-Preisträgerin Annekatrin Hendel über die Ferieninsel Hiddensee in den vergangenen 100 Jahren entstehen. Dafür sind 125.000 Euro zugesagt worden. Der Streifen präsentiere eine Collage aus Erinnerungen, Biografien und Zäsuren in vier verschiedenen Wertesystemen und reflektiere die Zerrissenheit der deutschen Geschichte, heißt es von der Filmförderung MV.
Auf den ersten Blick haben die Schriftstellerin Mirijam Günter, aufgewachsen in Kinder- und Jugendheimen, und der ehemalige Kölner Generalvikar Dominik Meiering kaum etwas gemeinsam. Doch ihr Glaube an Gott verbindet sie.
Für mich ist die katholische Kirche mein einziger, stetiger Begleiter. Egal, wie krass mein Leben war, angefangen von einer Heimkarriere, gefolgt von Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt, revolutionären Zeiten bis hin zu meiner Schriftstellerkarriere: Der wöchentliche Gottesdienst gab und gibt meinem Leben Halt, Tritt und Ruhe. Wieso sollte ich aus einer Kirche austreten, die immer für mich da war?
„Schwere Rucksäcke aus der eigenen Kindheit mitschleppen – und wie im Älter- und Altwerden damit umgehen"
Persönliche Gedanken aus der Sicht „von unten“ - Mirijam Günter
Der Themenschwerpunkt dieses Heftes „Behinderung – Benachteiligung – Alter(n)“enthält vor allem Beiträge zu Menschen mit Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens sowie der Kognition. Sie sind maßgeblicher Teil des Lebens der Betroffenen entweder von Geburt an oder im Laufe des fortschreitenden Alterns. Es erschien uns jedoch wichtig ,dass im vorliegenden Heft nicht nur Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen im Kontext medizinisch fassbarer Schädigungen thematisiert werden. Vielmehr sollten auch Menschen, die mit oftmals lebenslangen sozialen Benachteiligungen älter und alt werden, in das Blickfeld der Leserinnen und Leser kommen. Was heißt es, unter den Bedingungen von prekären Lebenslagen, von sozialen bzw. soziokulturellen Benachteiligungen älter und alt zu werden? Wir baten die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter, uns dazu einen Beitrag zu verfassen.
Es wird viel über Menschen diskutiert, die sich abgehängt fühlen und nicht zur Wahl gehen. Doch mit jenen, die kaum eine Chance auf sozialen Aufstieg haben, wird nicht geredet. Ein Gastbeitrag.
FAZ (05/2019) - „Geige spielen, ich? Du bist echt witzig!“
Meine Arbeit mit unterprivilegierten jungen Menschen / Von Mirijam Günter
Oft werde ich gefragt, ob marginalisierte junge Menschen ein Bewusstsein für ihre eigene gesellschaftliche Position haben. Ich gab die Frage an acht inhaftierte junge Männer einer Jugendarrestanstalt weiter. Allerdings mit einer anderen Wortwahl. Unter „marginalisiert“ hatten sich die Befragten etwas mit Magnesium vorgestellt. Also frage ich: „Warum begegnen mir eigentlich so wenig Akademikerkinder in meinen Literaturwerkstätten, obwohl ich seit mehr als zehn Jahre in Jugendgefängnisse, Arrestanstalten, Haupt- und Förderschulen et cetera gehe?“ Nachdem sie Akademikerkinder mit Bonzenkinder übersetzt haben, meldet sich ein Junge und sagt, dass er mir am nächsten Tag die Antwort geben könnte. Am nächsten Tag gibt er mir einen Zettel und bittet mich, seine Antwort vorzulesen.
Sozialer Aufstieg? Für viele ist das nicht mehr als ein Schlagwort. Für andere bedeutet es einen lebenslangen Kampf – gegen Vorurteile und mit der eigenen Herkunft.
Mit meiner Heim- und Hauptschulkarriere und einem sich anschließenden Leben in Armut hat man in Deutschland die Chance, Regalauffüllerin im Supermarkt zu werden, sofern Glück im Spiel ist. Den Satz „Aus dir wird eh nix“ musste ich mir von jeher anhören (die Jugendlichen in meinen Literaturwerkstätten müssen es bis heute). Mir wurde eine Zukunft im Knast oder als Drogenabhängige prophezeit. Als Frau hatte ich noch die Chance, alleinerziehend mit fünf Kindern von verschiedenen Vätern in einem sozialen Brennpunkt am Stadtrand zu landen. Meine Schicksalsgenossen von damals kannten nur die Verhältnisse und Menschen aus ihrer Schicht. Wir lebten in einer völlig abgeschotteten Welt, die wir für normal hielten. Wir wussten zwar, dass es Menschen gab, die anders lebten, aber für uns war es undenkbar, den Sprung aus der Armut und Perspektivlosigkeit zu schaffen.
Wenn ich keinen Zugang zur politischen Bildung habe und niemanden finde, der mir Dinge erklärt – wie soll ich mir dann eine politische Meinung bilden können? Ein Gastbeitrag über die Arbeit mit Jugendlichen ohne Chancen.
Oft werde ich gefragt, ob marginalisierte junge Menschen ein Bewusstsein für ihre eigene gesellschaftliche Position haben. Ich gab die Frage an acht inhaftierte junge Männer einer Jugendarrestanstalt weiter. Allerdings mit einer anderen Wortwahl. Unter „marginalisiert“ hatten sich die Befragten etwas mit Magnesium vorgestellt. Also frage ich: „Warum begegnen mir eigentlich so wenig Akademikerkinder in meinen Literaturwerkstätten, obwohl ich seit mehr als zehn Jahre in Jugendgefängnisse, Arrestanstalten, Haupt- und Förderschulen et cetera gehe?“
FAZ (11/2022) - „Arm zu sein ist wie eine Spinne im Netz, die nichts fängt“
Ich bin ein Mädchen aus der Unterschicht, das in Löchern hauste und sich wochenlang von kalter
Dosensuppe ernährte. Was macht das mit Menschen, wenn sie so leben? Ein Gastbeitrag.
Ich habe in einer solchen Armut gelebt, dass unser Kampf eigentlich schon mit dem Aufstehen begann.
Zugegeben,
das war, wenn das Arbeitsamt mich nicht gerade wieder in eine sinnlose Maßnahme steckte, erst um die
Mittagszeit – aber das spielt ja keine Rolle. Ich lebte in Löchern, die sie mir, dem Mädchen aus der
Unterschicht, als Wohnungen vermieteten. Warmwasser und Heizungen waren dort nicht vorhanden. Im Winter
konnte
es passieren, dass man aufwachte und die Bettdecke klamm war und die Wohnung nach Moder stank. Wir mussten
zusehen, wo wir duschen konnten, damit fing der Tag an. Und ob es gerade Strom gab und wir uns Tee kochen
konnten oder nicht, war offen.
Mirijam Günter, in Köln und in vielen anderen beinahe genau so schönen Städten
aufgewachsen, absolvierte in mehreren Stationen letztlich erfolgreich die Hauptschule, gekrönt mit
einem Realschulabschluss. Nach für alle Beteiligten deprimierenden Versuchen, durch das Erlernen
eines ordentlichen handwerklichen Ausbildungsberufs im normalen Leben zu landen, entschied sie sich
endlich, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen - zu schreiben. Und das äußerst erfolgreich: Für
das Manuskript ihres Debütromans 'Heim' erhielt sie 2003 den Oldenburger Kinder- und
Jugendbuchpreis. Sie versteht es in einer begeisternden Manier, den meist jugendlichen Zuhörern
ihrer Lesungen einerseits einen Eindruck dessen zu geben, was den Beruf der Schriftstellerin ausmacht,
als auch klar zu machen, dass es möglich sein kann, einen Weg wie ihren zu gehen - unabhängig
von der Biographie und gegen alle Prognosen.
Seit 2006 bietet Mirijam Günter Literaturwerkstätten an. Das sind Projekte, bei denen sie mit
zumeist jugendlichen Schülern oder Straftätern lyrische Texte oder einen (Jugend-) Roman liest
- je nach Dauer des Projekts - und sie dann zu einem Gruppengedicht, welches die Jugendlichen am Ende
gemeinsam präsentieren, führt.
Die Jugendlichen kommen in dieser Woche oft erstmals überhaupt dazu, auch außerhalb des
Projekts Texte zu schreiben, die sie dann am Ende der Woche Mirijam Günter übergeben. So
kommen ganze Mappen mit außergewöhnlichen Texten zusammen.
Zudem lesen die Jugendlichen – einmal angestachelt – auch gerne und viel während dieser Zeit:
Jugendbücher, Klassiker, Gedichte.
Derart angespornt sind zum Teil wunderschöne Texte entstanden, Gedichte, deren Autorenschaft die
meisten Menschen diesen von der Gesellschaft Verstoßenen bestimmt ebenso wenig zugetraut hätten,
wie das begeisterte Lesen der Lyrik von z.B. Heine, Fried und Schiller zuvor.
Jürgen Becker, Franz Meurer und Martin Stankowski formulieren das in ihrem Buch „Von wegen nix zu
machen…“ (KiWi 2011) so: (Ausschnitt)
„Mirijam Günter (…) erreicht die, die aufgrund von sozialer Herkunft oder
Migrationshintergrund keine Berührung mit Literatur und wenig Chancen auf Bildungserfolg haben. Aus
eigener Initiative widmet sich Mirijam Günter der Sprach- und Leseförderung und trägt die
Auseinandersetzung mit Dichtern und Denkern in die bildungsfernen Gesellschaftsgruppen. Durch ihren
eigenen biografischen Hintergrund findet sie einen Schlüssel zu den Teilnehmern, und diese finden
einen Zugang zu Heine, Schiller und Goethe, zu Texten und Gedichten und ihrem eigenen sprachlichen
Ausdrucksvermögen. Vom Ergebnis dieser Literaturwerkstätten profitieren alle. Doch das
Aufbrechen der Bildungsbenachteiligung kostet Geld. Und so kämpft die Autorin unermüdlich um Fördermittel
für ihre Projekte. Was sie dabei immer wieder feststellen muss: Den sogenannten „Risikolagen“
Erwerbslosigkeit, Geringverdienst und niedriges Bildungsniveau steht bei manchen Trägern eine Art
mentaler „Risikolage“ gegenüber. Denn viele können sich einfach nicht vorstellen, dass
Literatur und Haupt- und Förderschule zusammen passen.“
Veröffentlichungen
Heim.
dtv, München 2004, ISBN 978-3-423-70884-5 (Roman)
Norbert Niemann, Thomas Kraft (Hrsg. für den Verband deutscher Schriftsteller in Bayern - VS
Bayern in ver.di): Keine Lust auf Untergang – Gegen eine Trivialisierung der Gesellschaft, Autoren
gehen in die Offensive. Langen/Müller, München 2010, ISBN 978-3-7844-3245-8 (
Essaysammlung)
Einmal Bürgertum und zurück. In: Süddeutsche Zeitung. 22. Mai 2010
Mit Träumen sind Sie bei uns an der falschen Stelle – Warum sich so viele Migrantenkinder und
Hauptschüler abgehängt fühlen. Ein Bericht von ganz unten. In: Süddeutsche
Zeitung. 23. Oktober 2010
Hinter 1000 Stäben meine Welt. Radio-Feature, WDR, 26. September 2008
Orientierungsmarken der Wirklichkeit, 50 Jahre Deutscher Jugendliteraturpreis – Anlass zum Gespräch,
Interview mit Prof. Dr. Otto Brunken. 12. Mai 2005